Politik

Tod eines Politikers - Dr. Walter Lübcke wurde ermordet

Erinnerungen und Gedanken


Dr. Walter Lübcke im Regierungspräsidium Kassel (Quelle: heldmann.photos)
Trauerfeier für Walter Lübcke
(Quelle: heldmann.photos)
GDN - Als sich am 2. Juni die Nachricht verbreitete, der Kasseler Regierungspräsident Dr. Walter Lübcke sei tot, war die Bestürzung bei denen, die ihn kannten groß. Als es wenige Stunden später hieß, er sei “an einer Schusswunde im Kopf“ gestorben, wurde aus der Bestürzung Entsetzen.
Da niemand etwas Genaues wusste, gab es viele Fragen und noch mehr Verunsicherung.
Heute wissen wir mehr. Die intensive Ermittlungsarbeit von LKA und nordhessischer Polizei hat, obwohl es anfangs nicht danach aussah, einen schnellen Erfolg gebracht. Es deutet derzeit alles darauf hin, dass Walter Lübcke von einem bekannten und gewalttätigen Rechtsextremisten kaltblütig auf seiner eigenen Terrasse hingerichtet wurde. Allein diese Vorstellung ruft das kalte Grausen hervor. Wenn man aber Walter Lübcke etwas näher kannte, versteht man die Welt nicht mehr.
Willkommensgruß an einer Erstaufnahmeeinrichtung
Quelle: heldmann.photos
Er war ein Mensch, die Redner auf der Trauerfeier zu seinen Ehren in der Kasseler Martinskirche haben dies unisono bestätigt, der sich in seinem gesamten Leben von einem christlich-humanen Menschenbild hat leiten lassen. Und er war der Prototyp eines volksnahen Politikers. Der Verfasser dieses Beitrags hatte das Glück, knapp ein Jahr mit ihm arbeiten zu dürfen, und zwar in einer für alle Beteiligten ganz besonderen Situation: Vom Sommer 2015 bis zum Sommer 2016, als Deutschland sich bei der Aufnahme von vielen Hunderttausend Schutzsuchenden in seiner ganzen Stärke beweisen konnte.
Dr. Lübcke mit Frauen aus einer EAE
Quelle: heldmann.photos
Das Kasseler Regierungspräsidium hatte die Aufgabe übertragen bekommen, im gesamten Regierungsbezirk die Erstaufnahme zu organisieren; die zentrale Landesstelle hatte die Regierungspräsidien “um Amtshilfe“ in dieser Situation gebeten. Die Nordhessen gingen diese Aufgabe so an, wie Walter Lübcke Probleme immer anging: Vom Ergebnis her gedacht. Die Frage war nicht, wie so häufig in regelorientierten Organisationen: “Dürfen wir das?“, sondern viel mehr: “Wie bekommen wir das gewünschte Ergebnis im Rahmen des geltenden Rechts hin?“ Und es gab noch zwei Besonderheiten. 1. Das Regierungspräsidium sah sich nicht nur als zuständig für die Unterbringung, sondern im Wissen, dass die meisten der Menschen längere Zeit in diesem Land bleiben würden, als verantwortlich für eine gelingende Integration. “Integration beginnt am ersten Tag!“, war das Motto, nach dem die Erstaufnahmeeinrichtungen bereits geplant, gestaltet und geführt wurden. 2. Das gewaltige Potenzial an ehrenamtlicher Unterstützung aus der Bevölkerung wurde nicht etwa als Störfaktor zurückgewiesen, sondern ausdrücklich als Beitrag zur Integration und zum gegenseitigen Kennenlernen begrüßt. Allerdings musste das organisiert werden, damit es funktioniert. Oder anders gesagt, die Ehrenamtlichen mussten auch integriert werden.
Erstaufnahmeeinrichtung in Calden
Quelle: heldmann.photos
Das führte aber nicht etwa dazu, dass Walter Lübcke blauäugig an die Aufgabe ging. Ihm wie allen anderen Beteiligten war klar, dass es auch andere Haltungen gab, dass es Gegner von Erstaufnahmeeinrichtungen in ihrer Nähe gab und dass es Menschen gab, die prinzipiell gegen die Aufnahme von Geflüchteten waren und den Untergang einer Kultur, wie sie wohl nur in ihrer Vorstellung existierte, sahen. Hemdärmelig, wie er als Waldecker war, packte er nicht nur an, als es in der ersten nordhessischen Erstaufnahmeeinrichtung in Calden darum ging, Biertische und -bänke für die provisorische Kantine aufzustellen oder Feldbetten in den Zelten zusammenzubauen.
Dr. Lübcke konnte zuhören
Quelle: heldmann.photos
Walter Lübcke sah sich auch als ersten Botschafter des Staates in Nord- und Osthessen und suchte, wo immer dies möglich war, den Kontakt zu den Bürgerinnen und Bürgern. Wer ihn in Gesprächen mit - auch ernsthaft besorgten - Bürgerinnen und Bürgern erlebte, sah jemanden, der weder als “kluger Besserwisser“ auftrat noch einen, der “dem Volk nach dem Maul redete“. Er war im besten Sinne ein bürgernaher Politiker, der zuhörte, erklärte und auch bereit war, seine eigene Meinung zu überprüfen. Neben seiner eigenen Werteskala gab es für ihn allerdings noch eine Grenze, die zu respektieren er erwartete: Das Grundgesetz und die Regeln des Rechtsstaates. Die Würde aller Menschen war für ihn nicht verhandelbar.
In diesem Sinne wurde keine Erstaufnahmeeinrichtung eröffnet, ohne dass es vorher eine Bürgerversammlung dazu gab. Dabei stand allerdings das “Ob“ nie zur Diskussion, sondern das “Wie“. Dazu gehörte, wie oben bereits erwähnt, immer auch die Frage, wie die Bürgerinnen und Bürger in einer Weise einbezogen werden konnten, die den jeweiligen Bedingungen im Ort und gleichermaßen dem Schutz der ohnehin schon stark reduzierten Privatsphäre der Geflüchteten in den Einrichtungen gerecht wurde. Das war nie ein einfacher Verhandlungsprozess, aber Walter Lübcke hat ihn auch nie gescheut. Wie gesagt, ihm waren von möglichst Vielen mit getragene Ergebnisse wichtig.
Hier sollte die EAE entstehen
Quelle: heldmann.photos
Um so mehr haben ihn die Vorfälle in der inzwischen vielfach in der Medienberichterstattung erwähnten Bürgerversammlung in Lohfelden getroffen. Dort stand ein ehemaliger Baumarkt im Industriegebiet zur Verfügung, eine nicht unproblematische Liegenschaft. Zum einen musste ein als Ladengeschäft konzipiertes Gebäude umgebaut werden, um sie als Wohn- und Aufenthaltsort für bis zu 800 Menschen herzurichten. Das war allerdings zu diesem Zeitpunkt bereits eine Aufgabe, für die es eine gewisse Routine gab. Neu war in Lohfelden jedoch, dass bereits beim Aufbau der Einrichtung ehrenamtliche Helfer und ganze Schulklassen ihre Unterstützung anboten, die dankbar angenommen wurde. Alle, die dabei geholfen hatten, wussten später zu erzählen, unter welch einfachen und spartanischen Bedingungen die Geflüchteten auf engstem Raum leben mussten. Einen besseren Beitrag als durch die Bürger der Gemeinde selbst konnte es gegen haltlose Vorurteile nicht geben.
Ehrenamtliche helfen beim Aufbau
Quelle: heldmann.photos
Das zweite Problem war die abseitige Lage und der lange Fußweg in den Ort selbst. Die bisherigen Erfahrungen hatten nämlich bereits gezeigt, je besser die Einrichtung im Ort verankert ist, desto weniger Probleme und Misstrauen beiderseits gibt es. Hier kam nun die Gemeinde mit ihrem damaligen Bürgermeister Michael Reuter ins Spiel, die sofort Strukturen zur Gewinnung und Organisation ehrenamtlicher Unterstützung schuf. Das Interesse war für eine Gemeinde dieser Größe gewaltig. So schien alles auf einem guten Weg, als die Bürgerversammlung im Lohfeldener Bürgerhaus stattfinden sollte.
Stephan Ernst bei Bürgerversammlung in Lohfelden
Quelle: heldmann.photos
Die Halle war gut gefüllt, die Stimmung eher gelöst und die Erwartungen hoch. Nach einer Begrüßung durch den Bürgermeister sollte der Regierungspräsident einige Erläuterungen zur geplanten Einrichtung geben. Dann sollte es ausreichend Zeit für die Beantwortung von Fragen aus der Bürgerschaft geben, bevor sich zum Ende an mehreren vorbereiteten Ständen Interessierte für eine ehrenamtliche Unterstützung in Listen eintragen könnten. Kurz bevor es losging, die Offiziellen hatten ihre Plätze mit Blick in den Saal bereits eingenommen, kam es zu einer kurzen Unruhe. Eine Gruppe von zehn bis fünfzehn Personen kam in den Saal, nahm die letzten freien Plätze ein oder verdrängten sogar andere von ihren Plätzen; andere, darunter auch der nun als Mörder Walter Lübckes geständige Stephan Ernst standen am Rand des Saals.
Viehmann (erhobene Hand) mit Gefolgsleuten
Quelle: heldmann.photos
Angeführt wurde diese Gruppe, allesamt übrigens nicht aus Lohfelden, von Michael Viehmann. Der hatte 2014 versucht, das sächsische Konstrukt “Pegida“ ausgerechnet in der multikulturellen Stadt Kassel zu etablieren. Wirklich interessiert daran war nur die zwar kleine, aber in und um Kassel gut organisierte rechtsextreme Szene. So gehörte der damalige Sprecher der Kassler “AfD“ zu den regelmäßigen Rednern bei den über den Winter einige Wochen lang stattfindenden Kundgebungen. Unter den Teilnehmern waren wiederholt NPD-Kader, wie z.B. Daniel Lachmann, Stefan Jagsch oder der Kasseler Mike Sawallich, sowie autonome Rechtsextremisten aus Thüringen um Thorsten Heise.
Sawallich und Ernst
Quelle: Screenshot Facebook
Ob auch der damals eher unauffällig in Kassel lebende Stephan Ernst daran ebenfalls teilnahm, ist derzeit nicht bekannt. Sicher ist jedoch, dass er einige der Akteure persönlich kannte, wie Fotos aus früheren Jahren zeigen. Darunter auch jenen Mike Sawallich, der kürzlich eine Solidaritätserklärung für Ernst auf seiner Facebookseite veröffentlichte. Und auch die “Quelle“ des zum Zeitpunkt des NSU-Mordes an Halit Yozgat in dessen Internetcafe anwesenden Verfassungsschützers Temme, Benjamin Gärtner, der seinerseits zur militanten Rechten in Kassel zu zählen war, kannte nach eigener Aussage im NSU-Untersuchungsausschuss “NPD-Stephan“, wie er ihn nannte.
Dr. Lübcke bei der Bürgerversammlung
Quelle: heldmann.photos
Seine “Pegida“-Aktion war trotz persönlicher Unterstützung Lutz Bachmanns kläglich gescheitert, er hatte ein Strafverfahren am Hals und nun versuchte sich Viehmann als “besorgter Bürger“ in Lohfelden. Da er und seine Gesinnungsgenossen jedoch schnell erkannt worden waren, klappte das so nicht. Also gingen sie zur massiven Provokation durch permanente lautstarke Zwischenrufe über. Walter Lübcke lies sich zwar nicht provozieren, auch wenn ihn die Krakeler offensichtlich störten.
Hohmann spricht vor NPD-Landesvorstand
Quelle: heldmann.photos
Irgendwann, als er schilderte, warum Menschen ausgerechnet nach Deutschland fliehen, nämlich in eines der freiesten Länder dieser Erde, wies er auch darauf hin, dass diese Freiheit eben auch beinhaltet, nicht in diesem Land leben zu müssen, wenn einem die Werte des Grundgesetzes nicht passen. Diese Bemerkung, aus dem Kontext gerissen, wurde dann als eine verbale Waffe der Hetze und Verleumdung missbraucht. Als Viehmann und einige seiner Gefolgsleute wenige Wochen später bei einer weiteren Bürgerversammlung, dieses Mal in Eschwege, auftauchten, waren die erneuten Provokationsversuche erfolglos. Danach hatte sich die Situation wieder beruhigt, ab Sommer 2016 war das Kasseler Regierungspräsidium nicht mehr für die Erstaufnahme zuständig und Walter Lübcke konnte sich wieder frei bewegen. Dachte man jedenfalls. Doch die Hetze ging weiter, bis heute nach seinem Tod. Und auch Politiker der "AfD" beteiligen sich mit einer Opfer-Täter-Umkehr bis heute an den Polemiken.
Demonstration in Kassel
Quelle: heldmann.photos
Dass er heute, fast vier Jahre später, doch noch zum Opfer wurde, ist unfassbar. Es gibt in der gewaltbereiten rechtsextremen Szene in Nordhessen einige, denen Beobachter des Milieus durchaus eine ähnliche Tat zugetraut hätten. Einige der Akteure haben bereits wegen Totschlags, Körperverletzung, Freiheitsberaubung oder Vergewaltigung, mithin wegen Kapitalverbrechen Haftstrafen erhalten. Andere wurden mit Waffen nach einem Schießtraining in Tschechien erwischt. Oder beim versuchten Waffenhandel enttarnt. Und die Szene ist stark vernetzt. Stephan Ernst gehörte früher dazu, hat selbst einschlägige Verurteilungen, zuletzt wurde er vor zehn Jahren des Landfriedensbruchs in Dortmund beschuldigt, wohin er mit einer Gruppe nordhessischer rechter Gewalttäter gereist war, wie überhaupt die Kasseler und die Dortmunder Rechtsextremen miteinander verbunden sind.
Hier wohnte Ernst
Quelle: heldmann.photos
In den letzten Jahren ist Ernst in Kassel nicht aufgefallen. Er hat sich, wie es ja auch Beate Zschäpe versucht hatte, eine bürgerliche Fassade gegeben. Familie, ein Haus im Kasseler Stadtteil Bettenhausen, von dem man übrigens, würden nicht einige Bäume den Blick beeinträchtigen, die Lohfeldener Erstaufnahmeeinrichtung hätte sehen können, Schützenverein - das klingt schon fast bieder. Von seinem politischen Weggefährten Stanley R., der die Finanzen von “Combat 18“ verwaltete und als deutscher Sektionsleiter dieser rechtsextremen Gruppe gilt, wohnte er nur wenige Minuten entfernt. Und auch Mike Sawallich wohnt im gleichen Statdteil Bettenhausen. Alle drei sind auf Fotos gemeinsamer Aktionen aus den frühen 2000ern zu sehen. Dass sie zuletzt keinen Kontakt hatten, kann man glauben; man kann es auch lassen. Hinter der Fassade von Stefan Ernst brodelte es wohl. Das zeigen Kommentare, die er unter dem Pseudonym “Game Over“ auf YouTube veröffentlicht hatte und in denen er Politikern mit “Taten“ gedroht hat. Sein Arbeitsplatz lag übrigens nur wenige Gehminuten von der Lohfeldener Erstaufnahmeeinrichtung entfernt, man kann sich vorstellen, wie er seinen Hass jedes Mal weiter steigerte, wenn ihm, während er zur Arbeit ging, die dort zur Untätigkeit gezwungenen "Zuwanderer" begegneten, deren Anwesenheit Walter Lübcke auch noch unterstützt hatte. Nun sieht es so aus, als habe “NPD-Stephan“ Ernst gemacht. Darauf deuten nicht nur alle bekannten Indizien hin, sondern auch sein Geständnis von gestern. Gespannt sein darf man, welche Verbindungen die polizeilichen Ermittlungen und journalistischen Recherchen noch finden werden. Nachtrag: Dass Stephan Ernst offensichtlich nach wie vor Kontakte in sein altes Milieu unterhielt, lässt sich daraus schließen, dass er einen aktiven Hooligan und Rassisten zur Vermittlung des Waffendeals einschaltete. Der inzwischen ebenfalls in Haft sitzende Markus H. aus dem Kasseler Stadtteil Wesertor gehörte zur "Freien Kameradschaft" und damit zum Umfeld von "Combat 18".
Dr. Lübcke mit Thomas Mann (ehemals MdEP)
Quelle: heldmann.photos
Dr. Lübcke und Susanne Selbert (SPD)
Quelle: hedmann.photos
Dr. Lübcke und Claudia Roth (Grüne)
Quelle: heldmann.photos
Dr. Lübcke beim Kasseler Altstadtfest 2018
Quelle: heldmann.photos
Doch das letzte Wort in diesem Beitrag soll nicht dem Täter gelten, sondern seinem Opfer. Einem Mann, der wie kaum ein anderer mit der nordhessischen Region identifiziert wurde und sich mit ihr identifiziert hat. Walter Lübcke (CDU) hatte Freunde jenseits der Parteigrenzen. Als er mich zu einer Veranstaltung der FDP mitnahm, wo er als Referent eingeladen war, begrüßte er dort ebenso herzlich die damalige Erste Kreisbeigeordnete des Kreises Kassel, Susanne Selbert (SPD), und eine grüne Abgeordnete. Eine von mir organisierte Veranstaltung mit der Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages, Claudia Roth, bezeichnete er noch kürzlich, als wir uns am Rande des CDU-Bundesparteitags in Hamburg unterhielten, als eine “sehr gelungene Veranstaltung“. Als ich die Zeit, in der ich im Kasseler Regierungspräsidium für einige Monate Mitverantwortung für die Integration der Geflüchteten hatte, als “die beste Zeit meines Berufslebens bezeichnete“, entgegnete Walter Lücke: “Meine beste Zeit war das auch!“ Dass er nun genau deswegen Opfer eines Mörders wurde, macht das Verbrechen noch schlimmer. Ich habe mich ihm trotz ganz unterschiedlicher beruflicher und politischer Sozialisation immer verbunden gefühlt, nicht nur, weil wir beide Waldecker und Sternzeichen Löwe sind. Es waren die Werte, die Walter Lübcke hochgehalten hat, die ich teile. Jetzt ist es umso bedeutender, diese Werte wo immer es notwendig ist, ohne Zögern zu verteidigen. Ich denke, das wäre ganz im Sinne Walter Lübckes.
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